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Hyperemesis gravidarum: Zittert und erschaudert!

So, jetzt schreibe ich endlich den Post, den ich schon lange schreiben möchte. Seit April 2009, genauer gesagt, als mein Zustand sich einigermaßen gebessert hatte. Es geht um meine horrorartige Schwangerschaft - genauer, um deren 17 Wochen.

Im November 2008 habe ich erfahren, dass ich schwanger bin. Ich war sehr zufrieden und freute mich auf die kommende Zeit, ja, selbst auf die unangenehmen Seiten davon. Derer waren mir zwei bekannt: Wassereinlagerungen und die Schwangerschaftsübelkeit, die ich für ein rührendes leichtes Unwohlsein hielt. Wie dumm ich doch war.

Es fing in der sechsten Schwangerschaftswoche an.
Früh morgens, als ich zur Arbeit gehen wollte, stellte ich plötzlich fest, dass ich mich nicht in die vertikale Lage versetzen konnte. Sobald ich aufstand, bekam ich Brechreiz von einer sehr unangenehmen Sorte. Ich, meine Schwangerschaftsbücher bereits gründlich studiert, wähnte mich gewappnet. "Ach," dachte ich noch recht heiter, "mir wird doch noch übel, sieh mal an!" Ich quälte mich in die Küche und suchte nach einem trockenen Keks (sollte gegen die Übelkeit ja helfen, lest mal die Ratgeberliteratur). Ich fand ein Knäckebrot und versuchte, daran zu kauen. Seine Stücke verteilten sich zwischen der Küche und dem Badezimmer - ich kriegte keines davon runter und musste unentwegt brechen (auf einen leeren Magen auch keine sonderlich angenehme Angelegenheit).
Sobald ich mich hinlegte, wurde mir etwas besser, aber die Übelkeit blieb. Was ich damals noch nicht wusste - das war einer der Anfälle von meiner Hyperemesis gravidarum, die mich bis zur 23. Schwangerschaftswoche nicht losließ, und ich hätte bis heute viel, sehr viel dafür gegeben, sie nie kennengelernt zu haben.
Einige Wochen später fand ich genau zwei (!) Seiten im Internet, die sich diesem Thema widmen: eine deutsche und eine amerikanische. Ich zitiere gleich die Definition von Hyperemesis gravidarum:

"Hyperemesis gravidarum ist der Fachbegriff für extreme Schwangerschaftsübelkeit. Es bedeutet übermäßiges Erbrechen in der Schwangerschaft bzw. unstillbares Erbrechen. Der Brockhaus spricht von Erbrechen von mehr als 5 Mal am Tag. (Was ich persönlich für einen Witz halte). Bei 3-10 von 1000 Schwangerschaften tritt diese Übelkeit auf und kann zu einer gefährlichen Austrocknung von Mutter und Kind führen. Bei ca. 1 von Tausend Schwangerschaften kann Hyperemesis grav. zu einem Gewichtsverlust von mehr als 10% während der ersten 3 Schwangerschaftsmonaten führen und einen stationären Aufenthalt in einem Krankenhaus notwendig machen. Bei Nichtbehandlung kann Hyperemesis grav., in seltenen Fällen, zum Tod von Mutter und Kind führen. In jedem Fall ist es eine furchtbare Erfahrung für die Frau und ihr Umfeld.

Im relativ neuen und bisher leider nur in englischer Sprache erschienenen Buch "Beyond Morning Sickness-Battling Hyperemesis Gravidarum" von Ashley McCall wird Hyperemesis folgendermaßen beschrieben: "HG ist eine schwangerschaftsbezogene Krankheit, die ca 5 aus 1000 Frauen erleben. Es existiert keine generell akzeptierte Definition der Krankheit, folgende Eckpunkte gelten jedoch als allgemein anerkannt. HG beginnt normalerweise um die 6. SSW und verursacht extreme Übelkeit, Erbrechen, Unterernährung, Gewichtsverlust und Flüssigkeitsmangel. HG ist extrem schwächend, oft schwierig zu managen und erschwert das tägliche Leben für die Schwangere auf enorme Art und Weise."

Eine Frau die an Hyperemesis grav. leidet muß sich ca 5 - 50 mal am Tag übergeben und kann zeitweise weder feste Nahrung noch Flüssigkeit bei sich behalten. Diese extremen Übelkeitsattacken ziehen sich häufig über Stunden und enden meistens mit der völligen Erschöpfung der Frau.

Meine Erfahrung bestätigt auch das man sehr leicht in schwere Depressionen gerät in denen man keinen Ausweg aus dem Kreislauf von schlafen und brechen mehr sieht. In diesem Zustand haben fast alle betroffenen Frauen mit denen ich gesprochen habe über die Möglichkeit von Abtreibung oder Selbstmord nachgedacht.

Die "normale" Schwangerschaftsübelkeit wird durch die zunehmende Hormonmenge im Blut hervorgerufen. Diese reizt das Brechzentrum im Gehirn.

Die Ursachen für Hyperemesis sind unklar. Viele Wissenschaftler gehen davon aus das die Übelkeit eine Überreaktion des Körpers auf die zusätzlichen Hormone während der Schwangerschaft ist."


Lasst euch das auf der Zuge zergehen:
- unstillbares Erbrechen
- stationärer Aufenthalt
- extreme Übelkeitsattacken
- Nachdenken über Abtreibung oder Selbstmord

Ich habe das alles hinter mir, und auch für mich klingt das nach einer leichten Untertreibung. Ich kann mit Gewissheit sagen, dass ich - körperlich gesehen - nichts Schlimmeres erlebt habe, und dass mir der Gedanke an andere Frauen, die jetzt gerade darunter leiden, heute noch Tränen in die Augen treibt.

Zurück zu meinem persönlichen Erleben:
Ich lernte die Hyperemesis "in Wellen" kennen: Zwischen den Anfällen ging es mir zwar sehr schlecht, aber ich konnte in der Regel zumindest bestimmte Sachen essen und trinken.
Die Anfälle sahen alle gleich aus: Ich wachte auf und verspürte diese Übelkeit. Sie war nicht mit der "normalen" Übelkeit zu vergleichen, die man nach einer Lebensmittelvergiftung spürt. Nein, diese fesselte mich in die Horizontale und zerriss mich sozusagen von innen. Wie bei einem Migräneanfall konnte ich mich nicht bewegen, nicht sprechen, nicht lesen, nichts hören. Leider half das alles nie: Von Stunde zu Stunde wurde mir immer schechter, und zum Abend hin kam das Erbrechen. Es kam immer, unahängig davon, was ich gegessen hatte - und ob ich überhaupt etwas im Magen hatte. Stefan musste mich umziehen, aufrichten, zum Auto schleppen, um mich ins Krankenhaus zu bringen. Einmal wurde ich mit der Notambulanz ins Krankenhaus eingeliefert, von zwei mitleidvollen männlichen Ärzten, die mir versicherten, ich hätte nicht die Symptome einer normalen Schwangerschaftsübelkeit.
Und jedes Mal - in der Notaufnahme warten, brechen, weinen, sich zuerst zum Ultraschall schleppen, um festzustellen, dass mit dem Baby alles in Ordnung ist... (Bei meiner letzten Einlieferung habe ich inständig darum gebeten, mich bitte bitte doch zuerst an den Tropf zu legen, weil ich eine Woche zuvor erst beschallt worden war und es dem Kind gut ging...)
Im Unterschied zu dem "normalen" Erbrechen nach einer Lebensmittelvergiftung, wurde mir nach jedem Brechen immer schlechter (ein zu schwaches Wort, aber was soll's). Das Problem war, dass das Erbrechen nie, nie irgendwann von selbst aufhörte. (Einmal versuchte ich meinen Körper auszutricksen und legte mich schlafen, als ob nix gewesen wäre - nach einigen Stunden war ich trotzdem brav im Krankenhaus).
Bei meinem ersten "stationären Aufenthalt" tippten die Ärzte (!) noch auf eine Vergiftung, unser örtlicher Thai-Laden musste dafür herhalten, und ich glaubte es fast selbst, wofür ich mich jetzt in aller Form entschuldigen möchte. Auch ein Magen-Darm-Virus war im Gespräch. Ich bekam das Standard-Programm für Schwangere: Eine Infusion aus Vomex (gegen Erbrechen) und Buscopan (gegen Bauchkrämpfe). Die Wirkung spürte ich etwa nach einer halben Stunde und ich weiß noch, dass ich ein Loblied auf alle medizinischen Berufe absonderte, bevor ich in einen tiefen Schlaf fiel (eine Nebenwirkung von Vomex).
Was ich nicht wusste (und zufällig auf der angegebenen deutschen H.G.-Seite erfahren habe): Einige (auch in diese Kategorie fiel ich) entwickeln eine Gewöhnung an Vomex, das irgendwann nicht mehr wirkt. So auch bei mir - Beim zweiten Anfall wunderte ich mich noch, warum es so lange dauert, bis ich eine Wirkung spürte, beim letzten wurde ich von Vomex einfach in diesen Dämmerzustand versetzt, und sobald die Tropfflasche leer war, drehte sich mein armer leerer Magen auf links. Es half NIX, nur abwarten, bis das Erbrechen nach etwa 12 Stunden aufhörte.
Zwischen den Anfällen entwickelte ich eine nie gekannte, abartige, schreckliche Abneigung gegen Essen. Ich konnte mir nicht vorstellen, überhaupt etwas in den Mund zu nehmen und herunterzuschlucken - es geht hier, wie gesagt, um etwa 17 Wochen, in denen dieser Zustand anhielt. Nach den Brechanfällen, im Krankenhaus, kam es oft vor, dass ich einige Tage hintereinander nichts aß, sondern nur über den Tropf mit Flüssigkeit versorgt wurde. Es ging so weit, dass ich an den Tagen, an denen es mir einigermaßen gut ging und ich nicht brechen musste, nicht fernsehen konnte, denn, wie ich feststellte, besteht das deutsche Fernsehen hauptsächlich aus Kochshows und es wird in erster Linie für Lebensmittel geworben. Ja, ich kann heute auch darüber lachen, erinnere mich aber noch zu gut an diese Tage, an denen mir eine Schüssel mit Nudeln gebracht wurde und ich davor saß und vor Ekel und Hilflosigkeit heulte.
In dieser Zeit wurde die Diagnose "Magen-Darm-Virus" fallen gelassen. Die Ärzte sahen mich unsicher an und erzählten mir die bekannten Geschichten von der Schwangerschaftsübelkeit, die nach der 12. Woche vorbeigehe. (Von wegen! In der 12. Woche ging es so richtig los!). Warum ich denn nicht jeden Tag brechen musste, konnte mir keiner beantworten, und das weiß ich bis heute nicht. Und ich kann mich bis heute an die hilflosen Gesichter des Ärzte im Krankenhaus erinnern - vom Frauenarzt bis zum Gastroenterologen.
Recht früh bat ich darum, eine Magenspiegelung zu bekommen. Anfangs wurde ich vom Frauenarzt abgewimmelt, man mache das in der Schwangerschaft normalerweise nicht, und es sei doch alles schwangerschaftsbedingt. In der 13. Woche, als ich - ausgehend vom minimalen BMI von 18 - acht Kilo zu wenig auf die Waage brachte (ich sah etwa so aus wie KZ-Häftlinge auf Originalaufnahmen über die Befreihung) und nur noch im Krankenhausbett wimmerte, war es endlich soweit. Einige Wissenschaftler tippen auf einen Zusammenhang zwischen der HG und dem Helicobacter Pylori im Magen, einer geheimnisvollen Bakterie, deren Auswirkungen nicht unumstritten sind. Sie wurde bei mir gefunden. Ich kann kaum beschreiben, wie glücklich ich war! Endlich eine Ursache für mein Leiden, endlich die Möglichkeit, mit Antibiotika dagegen vorzugehen! Mein erster Griff am Morgen war der Griff nach den Tabletten. Es war beruhigend, sie neben mir zu haben - mit solchen Nebenwirkungen wie Übelkeit und Erbrechen, aber wen kümmerte es.
Leider freute ich mich zu früh. Sehr lange hielt ich selbst fest an der Theorie, es war alles das Helicobacter, das mich quälte. Ich konnte und wollte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass mein Zustand nur durch die Schwangerschaft hervorgerufen wurde. Heute denke ich anders. Nachdem ich nach der Antibiotika-Kur einen erneuten, den schwersten, Anfall gehabt hatte, zweifle ich nun wie die Ärzte daran, dass es nur am Helicobacter lag. Offensichtlich reagierte mein Körper auf bestimmte Hormone so, dass ich mir zwischendurch überlegte, ob es nicht besser war, einfach aus dem Fenster zu springen.
In der 23. Schwangerschaftswoche wachte ich auf und stellte mit Erstaunen fest, dass der Magen sich beruhigt hatte. Ich weiß noch, wie perplex mich das machte, das Gefühl einer Normalität hatte ich vollkommen vergessen und rechnete eigentlich auch nicht mehr damit, dass ich jemals ein normales Leben führen kann.

Warum ich das alles schreibe?
Nun, zum eine möchte ich natürlich einfach nur schocken. ;) Sorry für den überlangen Text.

Zum anderen hoffe, ich dass es jemandem hilft. Vielleicht liest das gerade eine mit Hyperemesis. Oder ihr kennt jemanden, dem es jetzt so geht. In diesem Fall - sagt nicht: "Ich hatte das auch, habe jeden Morgen gebrochen und musste danach zur Arbeit." Ich weiß noch, wie unglaublich mir so etwas vorkam - zur ARBEIT?? Ich konnte nicht einmal daran denken, es war nicht möglich, aufzustehen oder zu sprechen.
Sagt nicht das Wort "Ingwertee"!! Oder "ein trockener Keks". Es hilft nichts, wirklich nichts, weil man eh nichts essen kann - und auch wenn man nichts isst, findet man sich im Teufelskreis des unstillbaren Erbrechens wieder. Redet nicht über Psychosomatik! Nein, die betroffenen Frauen, auch ich, waren nicht ängstlich, freuten uns auf das Baby und versuchten nicht, es "unbewusst" loszuwerden!

Verweist auf die genannten Internetseiten! Mit halfen sie sehr, allein der Gedanke, nicht die Einzige auf der Welt mit diesem Problem zu sein, wirkte erleichternd. Abgesehen davon findet man viele Informationen.

Zum Selbsttest hilft diese Gegenüberstellung "Schwangerschaftsübelkeit - Schwagerschaftserbrechen (aka Hyperemesis) von der Foundation Help Her:

Morning Sickness
You lose little if any weight.
Nausea and vomiting do not interfere with your ability to eat or drink enough each day.
You vomit infrequently and the nausea is episodic but not severe. It may cause discomfort and misery.
Dietary and/or lifestyle changes are enough to help you feel better most of the time.
You typically will improve gradually after the first trimester, but may be a little queasy at times during the remainder of your pregnancy.

You will be able to work most days and care for your family.


Hyperemesis Gravidarum
You lose 5-20 pounds or more. (> 5% of prepregnancy weight)
Nausea and vomiting cause you to eat very little and get dehydrated from vomiting if not treated.
You vomit often and may vomit bile or blood if not treated. Nausea is usually moderate to severe and constant.
You will probably require fluid hydration through a vein and/or medications to stop the vomiting.
You usually feel somewhat better by mid-pregnancy, but you may continue to be nauseous and/or vomit until late pregnancy.
You will likely be unable to work for weeks or months, and may need help caring for yourself.

GANZ WICHTIG: In den USA verschreibt man in solchen Fällen Präparate, die in Deutschland offenbar nicht so schnell an den Mann kommen. Zu nennen sind hier vor allem Zofran und Agyrax. Mehr Infos dazu und zu anderen Therapiemöglichkeiten gibt es auf den genannten Internetseiten. Dort findet man viel mehr, unter anderem Tipps, wie man sich auf weitere Schwangerschaften vorbereiten kann.

Wie ich jetzt feststelle, habe ich in recht kurzer Zeit bei zwei Sachen mit minimaler Wahrscheinlichkeit ins Schwarze getroffen: Hyperemesis gravidarum (die so wenige haben, dass sich die Pharmaindustrie einen Dreck darum kümmert) und ein Kind mit Down-Syndrom. Und eins sage ich euch: Um diese meine Fähigkeit auszunutzen, spiele ich jetzt Lotto.

Kommentare

Laurin und Nicole hat gesagt…
Hallo Dina,
ich hatte das auch ganz schlimm und habe letztes Weihnachten im Krankenhaus verbracht, da war ich in der 15. SSW und wusste noch nicht das es ein Junge mit einem Chromosom mehr wird. Aber zum Glück hat der Aufenthalt was gebracht, mir war zwar immer noch oft übel aber ich musste nicht mehr ständig spucken. 7 Wochen später war klar, dass er ein besonderer Junge wird, unser Wunschkind halt. Lg Nicole

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