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Politische Korrektheit II. Für Deutsche

Wie es fast alle Eltern von „besonderen Kindern“ berichten, ändert sich Einiges im elterlichen Leben nach deren Geburt. So richtig dramatisch hat sich mein Weltbild (ich sage hier lieber nicht „Weltanschauung“) nicht gewandelt, ich sehe mich aber z. T. mit alten Fragen konfrontiert, die jetzt aber viel intensiver nach Antworten verlangen.

In diesen Tagen denke ich immer wieder über das Phänomen der politischen Korrektheit nach. Nicht zum ersten Mal – die Frage, ob und wenn ja, wie sehr die Sprache das Denken und das Handeln bestimmt, begleitet mich allein im Beruf schon jahrelang. In einem Aufsatz meinte ich sogar, sie (für mich) beantwortet zu haben. (Bestimmt die Sprache das Denken? – Jein!) J Jetzt kommen andere Beispiele in den Fokus.

Ich gehöre nun zu den Menschen, die mit Hartmut El Kurdi ruhigen Gewissens stolz darauf sein dürfen, Deutsche zu sein. Da sie sich bewusst dafür entschieden haben. In einem Land leben zu können, in dem man als Frau ernst genommen wird (ok, zumindest im Grundgesetz) und in dem es (zumindest offiziell) verpönt ist,  Dunkelhäutige als minderwertige Kreaturen zu behandeln. Nach Lydias Geburt ist diese Freude natürlich noch größer: Mein Kind wird nicht als „Invalide“ bezeichnet und schon gar nicht als „Daun“ (ein sehr böses Schimpfwort im Gegenwartsrussischen auf Kosten von Menschen mit Down-Syndrom, die Bedeutung kann man sich unschwer vorstellen).


Zwei Aspekte möchte ich aber noch erwähnen.

 

-       -Die Gebote der Political Correctness hatten für mich immer etwas von einer Bevormundung. Sie sind ja gewissermaßen Phänomene der dritten Art, die im Laufe des gesellschaftlichen Lebens entstehen, und denen man sich nolens volens beugen soll. Dies führte bei mir eigentlich bis zuletzt oft zu Trotzreaktionen: Natürlich halte ich mich für einen mündigen Menschen: Auch wenn ich „alte“, politisch inkorrekte Bezeichnungen benutze, kann mir keiner vorwerfen, ich sei Nazi/Antisemitin/Sozialdarwinistin und was sonst noch.  Und genau an dieser Stelle hat sich bei mir vieles geändert – sobald ich also selbst unmittelbar betroffen wurde. Ich habe mir nur die Frage gestellt: Würde es mich stören, wenn Menschen, die sich aufrichtig um Lydia kümmern und sie lieben, sie als „schwachsinnig“ oder „nicht vollwertig“ bezeichnen würden (kein Scherz, sondern eine wörtliche Übersetzung aus dem russischen Alltag)? – Ja, das würde es. Ohne wenn und aber. Aus verschiedenen Gründen. Ich weiß nicht, ob ich sie formulieren kann und möchte. Ich meine aber auf jeden Fall zu beobachten, dass die rigorose Beachtung der PC in der Öffentlichkeit in der Tat zu einer veränderten Haltung den Randgruppen gegenüber führt. Als Gegenbeispiel kann ich immer noch die heutige russische Gesellschaft anführen, deren Attitüden sich im Internet manifestieren. (O-Ton einer Mutter in einem russischen Forum: “Sie wollen doch nicht sagen, dass Sie Kinder von Zigeunern und Negern für genauso wertvoll halten wie ihr eigenes!?“)

-       Euphemismen (die meisten „politisch korrekten“ Bezeichnungen) verblassen leider mit der Zeit. Das am häufigsten erwähnte Beispiel sind die sich ablösenden Bezeichnungen Neger – Schwarzer – Afroamerikaner. Mit der Zeit verliert sich die positive Mitbedeutung, man greift zur nächsten Bezeichnung. Das Gleiche meine ich bei der Wortverbindung „geistig behindert“ zu beobachten. Für mich ist es (noch?) eine akzeptable Bezeichnung. „Menschen mit Lernschwierigkeiten“ fokussiert dagegen nur das Lernen, während Menschen mit DS auch Sprachschwierigkeiten haben sowie Probleme mit abstraktem Denken, das sich nicht unbedingt auf das Lernen beziehen. Dennoch beobachte ich, dass die Bezeichnung „geistig behindert“ von manchen Eltern als diskriminierend empfunden wird. Einen Ausweg aus dem Teufelskreis der verblassten Euphemismen sehe ich persönlich nicht. 

 


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Lydchen im November 2013

Blütenbomben

Als Mutter/Vater eines schwerbehinderten Kindes ist man sicherlich viel empfindlicher, dünnhäutiger, ja paranoider in Bezug auf Äußerungen Dritter. Ich befürchte auch, dass nach diesem Post viele mich eher stumm angucken werden, um ja nichts Falsches zu sagen. Aber auch diese Gefahr nehme ich billigend in Kauf, nur um endlich das hier aufzuschreiben. Ich kann es selbst kaum glauben, aber ich muss es vor allem aufschreiben, weil es so witzig ist. Misslungene Formulierungen nennt man bekanntlich Stilblüten. Eltern behinderter Kinder hören des öfteren Sätze, die sie sprachlos, wütend, weinend, lachend, kichernd machen. So etwas nenne ich immer "Blütenbomben". Die meisten von den Bomben sind gut gemeint, hinterlassen aber beim Hörer so ein Gesicht:  Meine persönliche Ausbeute ist ziemlich mager. Da ist z. B. eine Physiotherapeutin von mir - nach einer halben Stunde Unterhaltung über Lydias Geburt und Entwicklung fragt sie mich: "Aber Sie verstecken sie doch nicht, oder?...

Ungelöste Fragen

Aus Gesprächen mit Eltern von Kindern mit DS weiß ich, dass viele - so wie ich - die Frage "Habt ihr es vor der Geburt gewusst?" als indiskret, unsinnig und/oder beleidigend ansehen. Bei Nichtmedizinern bin ich persönlich sehr nachsichtig, aber bei Ärzten nervt es mich. Die Frage hat gerade im medizinischen Kontext keine Bedeutung. Entweder hat man es nicht gewusst und wurde überrascht - nun weiß man es aber und kann eh nichts ändern. Oder man hat es gewusst und hat sich bewusst für das Kind entschieden - auch daran kann keiner etwas ändern. Ich bin überzeugt, dass es keine Eltern von DS-Kindern gibt, die noch nie etwas von der Pränataldiagnostik gehört haben - und wenn es erst nach der Geburt war. Nachdem ich sehr viele solcher Fragen über mich habe ergehen lassen, entschloss ich mich, offensiv zu werden. Und wartete, und wartete, und wartete. Und endlich - gestern war es so weit, yay! Ein Frauenarzt (nicht mein "eigener") fragte nun genau das: Haben Sie es in...